Lüneburg. „Bei uns ist jetzt das Jugendamt“ – das erzählte ein Junge der Chefin des Lüneburger Kinderschutzbundes, Eleonore Tatge, beim Besuch einer 2. Klasse. Und er fand das gut. Das Jugendamt hatte die Familie des Jungen aufgesucht, nachdem Tatge in der Klasse seiner Schwester eine Stunde lang zum Thema häusliche Gewalt gesprochen hatte.
Mit dem Projekt „Du darfst es sagen“ besucht die ehemalige Kriminalhauptkommissarin 2. Klassen in Stadt und Landkreis Lüneburg. Dabei zeigt sie einen Film, in dem vier verschiedene Szenen mit Hilfe von Playmobil-Figuren durchgespielt werden. „Es wird dabei keine Gewalt gezeigt“, betont Tatge. Was vorgefallen sei, werde im Video jeweils vorher von einem Polizisten erzählt. „Gezeigt wird, wie die Kinder das Problem lösen konnten.“ In allen vier Szenen beweisen die betroffenen Kinder den Mut, sich einer Person anzuvertrauen: einer Lehrerin, einer Nachbarin, einem Onkel, einem Trainer. „Und das ist auch die wichtigste Botschaft, die wir übermitteln wollen“, sagt Tatge: „Dass man über die Situation sprechen kann.“ Denn noch heute sei häusliche Gewalt ein Tabu-Thema.
Wichtig sei auch der Fakt, dass es unterschiedliche Arten von häuslicher Gewalt gebe: „Nicht nur, wenn ein Kind geschlagen wird, handelt es sich um Gewalt.“
Auch physische Gewalt ist quälend
Physische Gewalt kann genauso quälend und vernichtend sein. Ein häufiger Fall: Das Kind kommt mit einer schlechten Note nach Hause. Dann würden Kinder oft auf ihr Zimmer geschickt, mit Worten wie diesen: „Das hast du nicht gut gemacht, ich will dich heute nicht mehr sehen.“ Das sei eine starke Form von Gewalt, so Tatge. Aber: „Das ist nicht zu verwechseln damit, wenn ein Kind in einer Stress-Situation kurz auf sein Zimmer geschickt wird“, betont die Fachfrau. Eine weitere Erkenntnis jüngerer Zeit: Wenn Kinder mitbekommen, dass der Vater die Mutter schlägt, leiden sie genauso wie die Mutter. Und es entwickele sich leider auch zu oft diese Spirale: „Jungs aus Gewaltfamilien werden zu Schlägern, Mädchen zu Opfern.“ Genau diese Entwicklung gelte es zu durchbrechen.
Seit Dezember 2021 hat Eleonore Tatge bereits 40 Klassen an 13 Schulen besucht. Immer dabei sind der Klassenlehrer und die Sozialarbeiterin der Schule. Mit ihnen bespricht sie vorab den Ablauf der Unterrichtsstunde. Auch, wie am besten damit umzugehen ist, wenn ein Kind sich in der Stunde öffnet und von zu Hause erzählt, bespricht sie. In der Ausbildung von Lehrern würden diese Aspekte des Kindeswohls kaum oder gar nicht behandelt.
Auf dem Dorf kommt es eher zu Anzeigen
In der Klasse zeigt sie dann die vier drei-Minuten-Sequenzen einzeln. Nach jeder Geschichte wird darüber gesprochen – was die Kinder gesehen haben, was sie dazu wissen. „Das Recht, ohne Gewalt aufzuwachsen, kennen sie meist nicht.“
In jeder der von ihr besuchten Klassen haben Kinder bisher von Gewalterfahrungen berichtet. Was leider nicht verwundert: Es wird davon ausgegangen, dass in jeder dritten Familie häusliche Gewalt vorkommt. „In einer Klasse hatten wir sogar fünf Meldungen“, erzählt Tatge. Da handelte es sich um eine Dorfschule. Auch das wundert die Fachfrau nicht: „Im städtischen Bereich wohnen die Menschen anonymer. Dort kommt es häufiger zu einer Anzeige.“ Auch bekämen Nachbarn dort allein durch die räumliche Nähe mehr mit.
Nach einer Stunde bespricht die frühere Präventionspolizistin mögliche Fälle mit dem Klassenlehrer und der Sozialarbeiterin: „Ich gebe auch Tipps für weitere Anlaufstellen.“
Wie intensiv die ungewöhnliche Schulstunde von den jungen Schülern aufgenommen wird, erzählte eine Lehrerin, deren Sohn in seiner Klasse schon besucht wurde: „Er erklärte mir ganz genau, welche Rechte er hat und was ich nicht darf!“
Viele Kinder – und auch Eltern – hätten allerdings Angst, dass die Kinder aus der Familie genommen werden, wenn das Jugendamt Kenntnis von häuslicher Gewalt bekommt. „Dabei kommt das so gut wie nie vor“, betont Tatge. „Das Jugendamt kommt nur zur Unterstützung, es hilft den betroffenen Familien, Auswege aus der Situation zu finden!“
Aussagen wie die des kleinen Jungen, der sich freut, dass das Jugendamt „jetzt da ist“, geben Tatge „ein gutes Gefühl“. Wie überhaupt jeder Besuch in einer Schulklasse: „Ich gehe da immer ganz fröhlich raus, weil ich das Gefühl habe, dass die Kinder jetzt wirklich wissen, dass sie in einer Gewaltsituation mit Menschen, die sie kennen, reden dürfen. Und weil ich weiß, dass sie die Nummer unserer Beratungsstelle Klippo kennen.“
Tatge sucht noch Unterstützer, die auch mit dem Film in die Klassen gehen können: „Einfach beim Kinderschutzbund anrufen“, bittet sie.
