
Reinstorf. Anfang des Jahres entfachte die Plakatwerbung der Bitburger-Brauerei einen Sturm der Entrüstung: Eine hochschwangere Frau mit blankem Babybauch posiert im Schneidersitz und setzt die Flasche an. „Getestet von Müttern. Gebraut für Euch alle“, lautet der Werbeslogan.
„Diese Werbung geht gar nicht, sie ist geschmacklos, gefährlich und ein Fall für den Werberat“, schimpft Niko Körner. Der 58-jährige hat sich beim Werberat beschwert. Körner ist Leiter der Selbsthilfegruppe FASD-Okay in Nordost-Niedersachsen und Pflegevater von zwei Kindern, die unter „Fetal Alcohol Syndrom Disorders“, kurz FASD, leiden. „Diese Behinderung entsteht, wenn Mütter während der Schwangerschaft Alkohol konsumiert haben“, erklärt Niko Körner. „FASD ist nicht heilbar, da es Gehirnzellen und das entstehende Nervensystem zerstört.“
Das Verheerende: „Man weiß nicht, welche Menge Alkohol schon zu viel ist. Vielleicht ist es schon der eine Schluck Sekt, das eine Glas Wein oder auch die eine Flasche alkoholfreies Bier, das ja immer noch eine geringe Menge Restalkohol enthält“, sagt Körner. Deswegen habe ihn auch die Bitburger-Werbung so sehr erzürnt. Er und seine Partnerin Heike Simon erleben fast jeden Tag, wie der Alkoholkonsum der schwangeren Mütter Spuren bei deren Kindern hinterlassen kann. „Man muss sich vorstellen, die Kinder kommen strenggenommen als Alkoholiker auf die Welt und müssen erstmal einen Entzug machen“, sagt Niko Körner, der sich derzeit zur FASD-Fachkraft ausbilden lässt.
Neben Unruhe, Schlafproblemen, Konzentrationsstörungen, sprachlichen, motorischen oder körperlichen Entwicklungsverzögerungen können auch Organ- und Herzschäden auftreten. „Die Kinder müssen zudem häufig traumatische Erlebnisse verarbeiten“, weiß Heike Simon, die seit vielen Jahren Pflegekinder aufnimmt. Ihre Erfahrung: „Eltern oder Pflegeeltern von auffälligen Kindern wissen häufig nicht, dass die Kinder FASD haben könnten.“ Stattdessen werde ADHS oder Autismus vermutet, häufige Begleiterscheinungen von FASD.
Optische Merkmale können auf FASD hinweisen
„Die Forschung zu Alkohol während der Schwangerschaft und den Konsequenzen steckt leider noch in den Kinderschuhen. Es gibt zwar Diagnosen, aber die sind sehr zeitintensiv“, sagt Körner. Dabei würden optische Merkmale in den ersten Lebensmonaten auf die Schädigung hinweisen: „Typisch sind Gesichtsveränderungen wie schmale Lidspalten, ein kurzer Nasenrücken, eine Hautfalte am inneren Augenwinkel, ein schmales und mangelhaft ausgeformtes Lippenrot sowie eine kaum ausgebildete Mittelrinne zwischen Nase und Oberlippe und kleine Ohren“, zählt Körner auf.
Dr. Anja Lavicka hat nicht nur als Fachärztin für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Kinik Lüneburg Erfahrung mit FASD-Betroffenen, sie hat auch selbst Pflegekinder mit dieser Behinderung: „Meine Erfahrung ist, dass sich Alkoholkonsum in der Schwangerschaft durch alle Gesellschaftsschichten zieht. Sa gibt es nicht das typische Klientel.“ Als Suchtmedizinerin hat sie auch häufig mit FASD-Erwachsenen zu tun: „Hier sehen wir neben Suchterkrankungen und Depressionen auch Störungen der exekutiven Funktionen“, erklärt Dr. Anja Lavicka. Das sind Störungen der mentalen Funktionen, die das Denken und Handeln steuern. „Das bedeutet, Handlungen können nicht ausgeführt, Vorhaben nicht geleistet werden.“ Während in Hamburg Mediziner bei Kindern und Jugendlichen FASD diagnostizieren können, müssen Erwachsene dafür bisher nach Berlin oder Essen. „Es gibt daher ein starkes Bestreben, ein Fachzentrum in Lüneburg einzurichten“, berichtet Dr. Lavicka. Denn die Diagnose sei wichtig: „Weiß der Betroffene, dass er unter FASD leidet, weiß er, dass er sein Schicksal nicht selbst zu verantworten hat. Das nimmt viel Druck.“
Pflegevater Niko Körner hat inzwischen nicht nur eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen, sondern möchte auch als FASD-Fachberater in Kindergärten und Schulen über die Gefahr von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft informieren. Und zwar „nicht nur die Schülerinnen und Schülern, sondern auch die Lehrkräfte. Damit sie wissen, warum Kinder oder Jugendliche auffällig sein könnten“, sagt Körner. Die Aufklärung sei dringend nötig, das ist seine Erfahrung aus den Selbsthilfetreffen: „Wir Pflegeeltern von betroffenen Kindern tauschen uns aus, geben uns gegenseitig Tipps im Umgang mit der Behinderung und den Behörden.“ Aber auch erwachsene Betroffene kommen und erzählen von ihren Sorgen und Problemen.
Aufgrund ihrer Erfahrungen raten Heike Simon, Niko Körner und Dr. Anja Lavicka: „Jede Frau, die sich in der Familienplanung befindet, sollte die Finger vom Alkohol lassen.“
Die FASD-Selbsthilfegruppe trifft sich immer am ersten Freitag im Monat, abwechselnd im Landkreis Lüneburg, Uelzen und Lüchow-Dannenberg. Nächster Termin: 2. Februar. Nähere Informationen bei Niko Körner unter: mail@fasd-okay.de.